Ein japanischer Volksglaube besagt, dass die Wünsche desjenigen, der mehr als 1000 Kraniche faltet, in Erfüllung gehen. Täglich werden Tausende dieser Faltfiguren am Denkmal von Hiroshima niedergelegt, das an die Opfer des amerikanischen Atombombenabwurfs im August 1945 erinnert. Die Gedenkstätte mit ihren bunten Kranichen steht für das von offizieller Seite im Laufe der Zeit immer stärker betonte „Nie wieder“ und für den Friedenswunsch der Japaner. Im Gegensatz zu Deutschland, das sich eindeutig zu seiner Schuld am Zweiten Weltkrieg bekannte, steht Japan bis heute nicht eindeutig zu seiner Verantwortung am Pazifikkrieg. Im Gegenteil, es stellt sich weiter als Opfer der westlichen Mächte da und begründet sein damaliges militärisches Engagement mit dem Willen, die asiatischen Nationen vom westlichen Joch zu befreien. Ähnlich ist der Tenor der Ausstellung des Tokioter Kriegsmuseums. Die Besetzung Koreas durch Japan wird als „Partnerschaft“ dargestellt. Der Kommentar über die japanische Offensive in Nanking, die von den Chinesen als Massaker bezeichnet wird, gibt an, die japanischen Friedensstifter seien von örtlichen Rebellen angegriffen wurden. Und neben dem Museum befindet sich der Yasukuni-Schrein, in dem alle in den verschiedenen Kriegen seit dem 19. Jahrhundert Gefallenen als „Heldenseelen“ verehrt werden. Unter den 2,4 Millionen dort verehrten Patrioten befinden sich auch 14 Kriegsverbrecher, die 1948 vom internationalen Militärtribunal für den Fernen Osten verurteilt wurden. In 2000er-Jahren sorgten die jährlichen Besuche von Premierminister Junichiro Koizumi bei den Nachbarn Japans, vor allem in China, für höchste Irritation. Neben der Freude am Provozieren spielten bei diesen jährlichen Pilgerbesuchen des unorthodoxen Politikers auch wahlpolitische Bedenken eine Rolle, denn die Veteranenverbände und Kriegswitwenvereinigungen stellen ein hohes Stimmpotenzial dar. Die japanische Kriegsvergangenheit wird seit jeher stark vereinnahmt. Nationalistische Gruppierungen haben den Yasukuni-Schrein zu ihrer Hochburg erklärt. Die glühenden Verteidiger des Vorkriegsjapans tragen ihre Nostalgie offen zur Schau. Sie schwenken die Reichsfahne, singen patriotische Lieder und heizen von ihren mit großen Lautsprecherboxen ausgerüsteten schwarzen Lastwagen aus die Massen an.
Demütigung Fast 70 Jahre nach seiner Niederlage tut sich Japan noch immer schwer mit der Bewältigung seiner Vergangenheit. Seine Schwierigkeit, die eigene Verantwortung einzuräumen, rührt von der schmählichen Demütigung durch die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki, von der Kapitulation und vor allem der anschließenden Verletzung des japanischen Nationalstolzes. Nach seiner militärischen Niederlage und der amerikanischen Besetzung musste sich Japan in seiner neuen Verfassung (Artikel 9) zum Pazifismus verpflichten. Seitdem fordern die großen nationalistischen Gruppierungen die Änderung des Artikels und, damit verbunden, das „Recht auf Krieg“. Das Thema kommt regelmäßig in öffentlichen Diskussionen auf, ohne abschließend geklärt zu werden. Die umfangreichen Arbeiten der japanischen Historiker gelangten nie an die breite Öffentlichkeit, während die Revisionisten in den Medien ungehindert ihre Thesen verbreiten können. Die Leugnung des chinesischen Völkermords wurde von den japanischen Behörden zu allen Zeiten toleriert. Schon in den 50er Jahren hielt er Einzug in die nationale Literatur, neuerdings auch in die beliebten Manga-Comics. Selbst die Schulbücher sind davon nicht ausgenommen. Der angedeutete Kurswechsel der Regierung blieb fruchtlos: Als sich Premierminister Murayama Tomiichi im Jahr 1995 für die vergangenen Gewalttaten entschuldigte und sogar anbot, die Opfer zu entschädigen, verloren sich seine feierlichen Erklärungen im Mediensturm der Revisionisten. Der Eindruck, Japan leide unter chronischer Geschichtsamnesie, wird durch seinen außenpolitischen Kuschelkurs mit den USA nur noch verstärkt – und das Volk kann die Verhältnisse nur schwer durchschauen.
Wiederaufbau Nach dem Krieg versuchte Japan, seine militärischen und diplomatischen Verluste auf wirtschaftlichem Gebiet wieder wettzumachen. Als Anfang der 90er ein ganzes Volk die Ärmel hochkrempelte, war das nationalistische Gedankengut eine wirksame Triebkraft im ökonomischen Genesungsprozess. Japan wurde marktführender Produzent für Elektroartikel und schaffte als eines der ersten Industrieländer den Sprung ins digitale Zeitalter. Sein Aufschwung beflügelte die gesamte westliche Wirtschaft. Doch dann kam der Fall: Mitten in den 90ern schwand die Dynamik, und die nun folgende wirtschaftliche Talfahrt ging als „verlorene Dekade“ in die Landesgeschichte ein. Gleichzeitig begann die Wirtschaft der Nachbarländer zu boomen. China raubte Japan den Titel als zweitgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, und der kleine, aber umso bissigere Erzfeind Korea machte mit den ständig wachsenden Unternehmen wie Samsung und LG den japanischen Giganten Sony, Toshiba und Panasonic bald ernsthaft Konkurrenz. Heute steht Japan vor zahlreichen Herausforderungen: Es muss eine neue Nationalidentität aufbauen, seinen Platz auf dem asiatischen Kontinent wiederfinden und seine Beziehungen zu den USA aufrechterhalten. Doch noch hindert die Lethargie seiner eigenen Politiker den Inselstaat daran, mit seiner Vergangenheit abzuschließen und die nötigen Reformen durchzusetzen, um endlich wieder durchzustarten.